Vergib uns unsere Schuld
Schuld und Strafe?
Von Bernd Nagel
„Das ist jetzt die Strafe für meine Schuld!“, sagt eine Frau nach dem plötzlichen Tod ihres Säuglings. Sie steht neben ihrem Mann in diesem Raum der Kinderklinik, wo man ihr gesagt hat, dass man nichts mehr tun konnte für ihr Kind.
Ich stehe neben dem Ehepaar. Zunächst still und abwartend. Dann nehme ich die weinende Mutter in den Arm. Mehr nicht. Ich möchte ihr das Gefühl geben, angenommen zu sein. Nach einer Weile nimmt die junge Frau noch einmal den Faden auf. Ihr Mann hat inzwischen den Raum verlassen, um sich ein wenig zu
bewegen. „Das hat bestimmt mit meiner Schuld zu tun . . .“
Gegen den Impuls zu beschwichtigen, zu beruhigen, Unangenehmes wegzureden, nehme ich die Mutter des Kindes ernst: „Denken Sie da an etwas Bestimmtes?“ Erstaunen bei der trauernden Mutter. Und fast so etwas wie eine Erleichterung, dass jemand nicht ausweicht, wenn sie von Schuld spricht. „Naja, wissen
Sie, es ist nicht wirklich sicher, ob mein Mann der Vater von der Kleinen ist ...“ „Weiß er davon?“ Die junge Frau nickt stumm.
Mir ist wichtig: keine Belehrung, keine Moralpredigt, kein Einsortieren in eine Schublade. Die Frau darf einfach da sein. Ich nehme sie wahr. Ich höre ihr zu. Und die Frau, so mein Eindruck, fühlt sich angenommen.
Erst später werde ich ihr diese Annahme auch verbal zusprechen. Es wird Raum sein für ein Gebet – später. Im Augenblick sind es nicht die Worte, die das Evangelium verkündigen. Es ist die annehmende und nicht wertende Haltung. Obwohl: Es fiel mir schwer, diesem kausalen Zusammenhang von Schuld und Strafe nicht zu widersprechen.
Später, nach drei weiteren Besuchen zu Hause, erinnere ich an das Vaterunser:
„Vergib uns unsere Schuld ... Wir glauben an einen Gott, der Schuld vergibt, damit wir nicht in der Vergangenheit gefangen bleiben müssen, sondern offen werden können für die Zukunft. Dass Ihr Kind plötzlich gestorben ist, hat nichts zu tun mit dem, was Sie als Schuld bereuen. Im Namen Gottes sage ich Ihnen, dass Ihre Schuld vergeben ist. Was gewesen ist, soll Sie nicht mehr beschweren; was kommt, soll Ihnen keine Angst machen.“
Es scheint, als könnte die junge Frau die Worte annehmen. Damals, in der Klinik, hätten sie nicht gepasst. Inzwischen aber gab es einige Begegnungen, in denen die Ehefrau Verantwortung übernehmen konnte, in denen der Ehemann seine eigenen Gefühle von Verletzung und Wut zum Ausdruck bringen konnte, und in denen beide behutsam begonnen haben, das Geschehene als Teil ihres gemeinsamen Lebens einzuordnen.
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