Der Sinn des Schmerzes
Von Johann Hinrich Claussen, Autor und Theologe
Die einfachen Fragen sind die schwierigsten, zum Beispiel: Was ist Trost? Wie entsteht und wirkt er? Wer bringt ihn und von woher? Wie kann er einen Menschen erreichen und von diesem angenommen werden? Vor solchen Fragen werden selbst große Theologen ganz klein, besonders wenn sie selbst des Trostes bedürfen. Davon erzählt diese Geschichte.
Am 1. November 1829 musste Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, einer der bedeutendsten protestantischen Theologen der Neuzeit, den schwersten Weg seines Lebens antreten: Er musste seinen eigenen Sohn beerdigen. Mit neun Jahren war Nathanael an Scharlach erkrankt und nach drei Tagen verstorben. Spät hatte Schleiermacher geheiratet, erst mit 52 Jahren war er Vater eines Sohnes geworden. Es muss ein besonders liebenswertes Kind gewesen sein: mit blonden Locken und blauen Augen, lebendig und hochbegabt. Nun war es plötzlich nicht mehr da. Der Vater nahm es auf sich, seinen Sohn zu beerdigen. Der berühmte Prediger, ein älterer, zierlicher, leicht buckliger Mann, stand vor dem kleinen Sarg. Womit sollte er die Familie und Freunde, vor allem aber sich selbst trösten? Ausgerechnet er! Hatte er nicht mit unvergleichlicher Radikalität die traditionellen Tröstungen des christlichen Glaubens in Frage gestellt, die Lehren von Auferstehung, Unsterblichkeit der Seele, ewigem Leben, Himmel und Hölle der Kritik unterzogen? Und nun, da er selbst Trost brauchte, was hatte er noch?
Schleiermachers Hauptkritik der herkömmlichen christlichen Tröstungen hatte nicht in dem Einwand bestanden, dass man vernünftigerweise über das „Jenseits“ des Lebens keine wahrheitsfähigen Aussagen treffen könne. Wichtiger war ihm eine fromme Skepsis. Er pflegte einen „frommen Unglauben an die persönliche Fortdauer“ nach dem Ableben, der sich an den Ungereimtheiten des alten Glaubens entzündete. Die Aussagen der Bibel und der Tradition sind zu widersprüchlich, als dass sie sich zu einer stimmigen Doktrin vereinen ließen. Wie soll man sich vorstellen, dass eine Person stirbt, aufersteht und dieselbe bleibt? Für die persönliche Identität ist doch die Kontinuität des Bewusstseins bestimmend, und diese ist an den Körper gebunden. Wie kann ein Auferstandener mit seinem irdischen „Vorgänger“ identisch sein? Bei näherer Betrachtung löste sich für Schleiermacher die Lehre von der Auferstehung in lauter Widersprüche auf.
„eine fast übermenschliche Anstrengung“
Hinzu kam ein religiöser Widerwille: Die ewige Seligkeit lockte Schleiermacher nicht, fast stieß sie ihn ab. Das Dasein der Erwählten sei auf ewige Andacht reduziert: „ein dürftiges Leben“, „geschäftslos und fruchtlos“. Außerdem müsste es durch das Mitleid für die Verdammten erheblich eingetrübt sein. Wie soll man im Himmel glücklich sein, wenn die anderen in der Hölle leiden, ohne dass man ihnen helfen kann? So verabschiedete sich Schleiermacher von allen gegenständlichen Hoffnungsbildern. Doch erklärte er, dass dies für ihn kein schmerzlicher Verlust sei. Denn ihm erschien der Glaube an eine persönliche Fortdauer nach dem Tod als eine allzu kleine und ungeistliche Hoffnung, viel zu sehr vom „Interesse an den sinnlichen Gehalt des Lebens“ bestimmt.
Aber wenn ihn der alte Glaube nicht mehr tröstete, was dann? Eine moderne Theologie kann sich nicht darauf beschränken, traditionelle Lehren zu kritisieren, sondern muss auf die existentiellen Fragen der Menschen eine eigene, christliche Antwort geben. Am 1. November 1829 vor dem Sarg seines Sohnes musste Schleiermacher sich eine neue Antwort geben. In diesem Moment zeigt sich das ganze Drama moderner Theologie. Deshalb ist Schleiermachers Trauerpredigt so aufregend und so anrührend. Wie sein Stiefsohn später erinnerte, muss es ihn „eine fast übermenschliche Anstrengung“ gekostet haben, „die von Tränen und vom tiefsten Herzensweh erstickte Stimme zum Sprechen zu bringen und sich selbst den Trost zuzusprechen“.
Seine Predigt beginnt Schleiermacher mit dem Rückblick auf die gemeinsamen neun Jahre. Doch die Dankbarkeit macht den Schmerz nur größer: „Nun aber hat dieser eine Schlag, der erste in seiner Art, der das Leben in seinen Wurzeln erschüttert.“ Der Knabe ist tot, der wirkte, „als schaue ein Engel aus ihm heraus – die Freundlichkeit unseres Gottes“. Schleiermacher schildert die vertrauensvolle, offene Art seines Sohnes, seine „reine Seele“. In den Abschied von ihm mischt sich keine ungeklärte Missstimmung. Dennoch reißt er eine Wunde, die kaum wird heilen können. Der Vater hatte noch so vieles mit ihm vor: „Diese mir über alles wichtige Aufgabe für mein ganzes übriges Leben, an der mein Herz mit großer Liebe hing, ist nun aufgelöst durchstrichen.“
Mitfühlende sagen ihm, im Himmel werde man sich wiedersehen. „Aber dem Manne, der zu sehr an die Strenge und Schärfe des Gedankens gewöhnt ist, lassen diese Bilder tausend unbeantwortete Fragen zurück und verlieren dadurch gar viel von ihrer tröstenden Kraft.“ Am meisten spricht Schleiermacher noch die fromme Ergebung an, wie er sie bei Hiob findet: „Der Herr hat dieses Leben gegeben und genommen. Gottes Name sei gelobt, dass er es wiewohl genommen und doch auch gelassen hat; dass es uns bleibt auch in unauslöschlichen Erinnerungen ein teures und unvergängliches Eigentum.“ Doch eine endgültige Antwort kann das nicht sein, dafür ist die Ergebung zu nah an der Resignation und die menschliche Erinnerung eine zu unsichere Kraft.
„Wie ist mir alles so schön versöhnend, vermittelnd, wie herrlich!“
So setzt er noch einmal beim Dank ein. Er dankt der Familie, Nathanaels Lehrern und Freunden und schließt die Aufforderung an, die Trauer als Anlass zur persönlichen Besinnung zu nutzen. Der Vater ruft alle auf, sich durch den Schmerz nicht auseinanderreißen zu lassen, sondern umso mehr zusammenzustehen. So möchte er dem Tod einen ethischen Sinn abgewinnen. Seine Predigt mündet in ein Gebet: „Nun du, Gott, der du die Liebe bist, lass mich auch jetzt nicht nur deiner Allmacht mich unterwerfen, nicht nur deiner unerforschlichen Weisheit mich fügen, sondern auch darin deine väterliche Liebe erkennen!“ Schleiermacher will nicht wie Hiob, das Schicksal bloß hinnehmen, sondern darin und dahinter einen Sinn entdecken. Dieser Sinn soll im Leben der Trauernden wirklich werden: „Lass für mich und all die meinigen den gemeinsamen Schmerz ein neues Band womöglich noch innigerer Liebe werden und ihn meinem ganzen Hause zu einer neuen Auffassung deines Geistes gereichen!“ Dass den Trauernden solch ein Sinn aufgeht, dafür steht das Wort „Segen“: „Gib, dass auch diese schwere Stunde ein Segen werde für alle, die hier zugegen sind.“ Segen ist, wenn sich Sinn gegen Sinnlosigkeit, Liebe gegen Verzweiflung durchsetzt. Er zeigt sich im alltäglichen Leben und weist zugleich hinaus in die Ewigkeit Gottes.
Dies ist ein gebrochener Trost, aber es ist ein Trost. Er kommt ohne die alten Bilder des Jenseits aus. Er zielt auf kein „Später“, sondern auf das „Jetzt“ des Lebens. Der Tod bleibt mächtig, aber ihm steht eine Ahnung von Gottes Segen gegenüber. Ein paar Tage nach der Beerdigung schrieb Schleiermacher einem Freund: „Da ist nun nichts zu tun, als sich zu fügen und seinen Schmerz zu verarbeiten. Denn kämpfen kann und will ich nicht dagegen, und hingeben darf ich mich nicht.“ Der Trost löscht die Trauer nicht aus, er sollte es auch nicht. Beide sollten sich so verbinden, dass der Schmerz im Glauben angenommen und aufgehoben wird. Nach Nathanaels Tod wurde Schleiermacher ein anderer. Seine bisherige Lebendigkeit, sein harmonischer Sinn wichen einer ungekannten Müdigkeit und Wehmut. Noch stärker äußerte sich eine religiöse Sehnsucht.
Vier Jahre später, im Februar 1834, erkrankte Schleiermacher an einer Lungenentzündung. Bewusst bereitete er sich auf seinen Tod vor. Auf seinem Krankenlager erlebte er ekstatische Augenblicke, an denen das Opium nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte. „In meinem Innern verlebe ich die göttlichsten Momente – ich muss die tiefsten spekulativen Gedanken denken und sie sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen.“ Ein letztes Mal feierte er mit seiner Familie das Abendmahl. Beglückt rief er aus: „Wie ist mir alles so schön versöhnend, vermittelnd, wie herrlich!“ Bald darauf starb Schleiermacher. Beerdigt wurde er neben seinem Sohn Nathanael. Noch heute kann man die Gräber der beiden auf dem Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin-Kreuzberg besuchen.
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Danke an Andere Zeiten e. V. für die Bereitstellung von Texten aus dem Magazin "Anders handeln", Ausgabe 3, 2019: Tod, Trauer, Trost
Zum Autor
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das heißt, er kümmert sich um das Gespräch zwischen Kirche und Kultur. In seinem wöchentlichen Blog „Kulturbeutel“ bei „chrismon“ stellt er kultur-kirchliche Gedankensplitter zusammen.