Menümobile menu

Die Trauer eines verwaisten Vaters

Von Sven Rohde, Coach und Autor

© Mario WezelMit seiner Trauer war Holger Guschmann oft allein. Dem verwaisten Vater halfen eine Theater- und eine Selbsthilfegruppe.

Im Sommer ist es besonders schwer. Wenn die Sonne strahlt und die jungen Mädchen auf ihren Fahrrädern durch das Städtchen Bramsche fahren, um sich an der Eisdiele zu treffen, ist der Schmerz kaum auszuhalten. „Alles blüht auf, alles freut sich aufs Leben, alle sind unbeschwert“, sagt Holger Guschmann. Er stockt. „Und wir müssen versuchen, ohne unser Liebstes klarzukommen.“ Marlene, die Tochter von Ute Mörking-Guschmann und Holger Guschmann, lebt nicht mehr. Marlene starb an Krebs. Sie wurde nur 13 Jahre alt.

Das Datum der Diagnose hat sich Holger Guschmann eingebrannt. Es war der 24. Juli 2015, der zweite Tag der Sommerferien, ein Freitag. Um 14 Uhr trafen sich Mutter und Tochter auf dem Parkplatz vor dem Kinderhospital in Osnabrück mit dem Vater. Marlene hatte seit ein paar Monaten immer mal wieder über Schmerzen geklagt. Nach intensiven Untersuchungen, über deren Ergebnisse die Ärzte nichts Konkretes mitteilten, wurde die Familie eilig an die Uniklinik in Münster weiterverwiesen. Dort kam die furchtbare Nachricht: Ewing-Sarkom, ein aggressiver Tumor, der schon gestreut hatte.

Es gibt keine Aussicht auf Heilung

Ein Martyrium von  Operationen und Chemotherapien begann. Im August 2016 galt Marlene als tumorfrei. Die Erleichterung dauerte nur wenige Wochen. Der nächste Untersuchungsmarathon im Oktober brachte das niederschmetternde Ergebnis: Der Krebs ist zurück. Wenige Wochen später, nach weiteren quälenden Behandlungen, wurde klar: Es gibt keine Aussicht auf Heilung. Nach 19 Monaten war Marlenes Kampf gegen die Krankheit verloren. Sie verstarb zu Hause am 22. Februar 2017.

Wie kann man als Eltern daran nicht zerbrechen? Nicht den Halt verlieren, in Sucht abgleiten, in Depressionen versinken, gar einen Suizid als einzigen Ausweg sehen? Gerade Männer neigen dazu, ihre Not mit sich alleine abzumachen, ihr Leid in sich zu verschließen, auf dass es sie später umso wuchtiger niederschlägt und nicht mehr auf die Beine kommen lässt. Andere werden darüber hart, bitter oder cholerisch.

Holger Guschmann nicht. Bei aller Trauer, die den verwaisten Vater, heute 56 Jahre alt, immer wieder überspült hat, ist er stabil und berührbar geblieben. Er erzählt mit offenem Gesicht und gefasster Stimme. Manchmal bricht sie, wenn die Tränen aufsteigen. Dann macht er eine Pause, um ein wenig später fortzufahren. Alle Geschichten sind präsent, als seien sie gestern passiert, jedes Detail, jeder Satz von Marlene. Er strahlt und lacht, wenn er von schönen und lustigen Erlebnissen der kleinen Familie erzählt, vom späten Glück, noch mit 41 Jahren Eltern zu werden. Voller Wärme und Staunen berichtet er, wie mutig sich das Mädchen ihrem Schicksal gestellt hat. Und voller Entsetzen und Trauer angesichts der schrecklichen Details.

Manchmal klingt Ärger durch. „Einige Menschen meinen, dass es nach einem oder zwei Jahren mal wieder gut sein müsse mit der Trauer. Vor allem Männer. ‚Jetzt wieder nach vorne gucken, nützt ja eh’ nix.’ Sie haben keine Ahnung.“ Guschmann furcht die Stirn. „Sie wissen gar nicht, was sie da von mir fordern.“

Das Haus ist still geworden

Der Trauerbegleiter Thomas Achenbach, in dessen Gruppe der verwaiste Vater Halt und Trost fand, hat dieses Hadern immer wieder beobachtet. „Trauernde können gar nicht anders, als den eigenen Weg der Trauer zu gehen und sich genau die Zeit zu nehmen, die sie brauchen“, schreibt Achenbach in seinem Buch „Männer trauern anders“. Das Leben dessen, der einen Verlust erlitten hat, müsse sich neu sortieren, „in einem schmerzhaften und als existenziell bedrohlich erlebten Prozess. Das dauert. Natürlich dauert das.“

Marlenes Jacken hängen immer noch im Garderobenschrank, ihre Zimmer im Obergeschoss sind unangetastet. Auch das Türschild und der Anrufbeantworter berichten von ihrer Zugehörigkeit zum Haushalt. Und so ist es ja auch: Sie ist so präsent wie immer.

Aber die Atmosphäre hat sich gewandelt. „Das Haus ist still geworden“, sagt Holger Guschmann. „Früher waren oft Freundinnen von Marlene zu Besuch. Großeltern, Onkel und Tanten kamen. Sie war ein so offener Mensch, den andere gerne um sich hatten.“ Während ihrer Krankheit war die Anteilnahme enorm. Immer wieder steckten ermutigende Kärtchen im Briefkasten der Familie. In beiden Kirchen von Bramsche wurde für das Mädchen gebetet. Zur Beisetzung kamen 500 Menschen, ein Spendenaufruf für die Kinderkrebshilfe erbrachte 14 000 Euro. In den Wochen danach kamen Freunde und Nachbarn, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Aber dann begann für die Eltern der peinigende Weg in so etwas wie eine neue Normalität.

Einfach da sein, zuhören

Die ersten Wochen nach der Beisetzung von Marlene waren unwirklich. „Ich kam nach Hause und dachte immer, jetzt muss sie doch gleich um die Ecke biegen. Ich habe sie überall noch gesehen“, erzählt der Vater. Das hörte irgendwann auf. Aber während Ute Mörking-Guschmann bei ihren Freundinnen Trost und Zuspruch fand, zog er sich eher zurück und versuchte, den unfassbaren Verlust mit sich selbst abzumachen. Nicht ganz freiwillig. „Ich habe in den ersten Wochen versucht, mit Freunden meine Trauer zu besprechen, aber ich habe vor allem Hilflosigkeit erlebt. Die haben den Kopf geschüttelt und ratlos gefragt, was sie mir dazu sagen sollen.“

Eigentlich sei Hilfe gar nicht so schwer, schreibt Thomas Achenbach: „Einfach da sein, zuhören. Und aushalten. Das ist sowieso das Allerwichtigste: aushalten, zuhören.“ Trauer sei ein weithin unterschätztes und nicht verstandenes Gefühl. Es gebe meist keine Vorbilder für das Verhalten in solch einer Krisensituation und in der Regel auch nichts Erlerntes. Was Männern am meisten zu schaffen mache: „die Ohnmacht, die zu einer Verlustkrise immer dazugehört. (...) Ausgeliefert zu sein und nichts tun zu können. Ausgelöst durch die große Hilflosigkeit angesichts der Todeserfahrung.“

Eine einfache Geste des Mitgefühls

Wie schwer es für Männer sein kann, mit dieser Hilflosigkeit umzugehen, erlebte Holger Guschmann in seiner Familie. „Mein Vater ist an Marlenes Tod zerbrochen“, sagt der Sohn. Er starb im April 2019. „Ich habe ihn mein ganzes Leben lang nie weinen sehen. Nur einmal, als er Marlene einen Tag vor ihrem Tod schwer atmend im Bett liegen sah. Da ist er in Tränen ausgebrochen. Meine Mutter erzählte mir nach seinem Tod, wie oft er weinend am Küchentisch saß.“ Wenn aber der Sohn zu Besuch war und die Tränen kamen, verdrückte er sie und sagte nur, ‚ach Holger, ach Holger.’ „Ich mache ihm keinen Vorwurf, er konnte es nicht besser.“

Wie tröstlich Mitgefühl sein kann, erlebte Holger Guschmann am zweiten Tag nach seiner Rückkehr an den Arbeitsplatz. Sein oberster Chef kam zu ihm. „Er hörte mir eine Stunde lang einfach nur zu. Ihm standen die Tränen in den Augen. Zum Abschied nahm er mich sogar in den Arm.“ Die Stimme bricht für einen Moment. „Das rechne ich ihm sehr hoch an.“

Das Gespräch blieb eine der seltenen Ausnahme. Das Team war unterstützend. Aber schon bald spürte er die innere Abwehr der anderen. „Ich erlebe vor allem Männer als sehr unsicher. Offenbar befürchten sie, dass ich zusammenbreche und sie damit nicht umgehen könnten. Deswegen weichen sie dem Thema aus. Es entsteht eine Distanz.“ Er wolle nicht ungerecht sein. Natürlich gehe das Leben weiter, und jeder habe seine eigenen Probleme. Er zieht die Augenbrauen zusammen. „Aber Frauen reagieren oft anders. Vor ein paar Wochen sagte eine Kollegin zu mir, ‚ich muss dich jetzt mal in den Arm nehmen. Was du da erlebt hast!’“ Ihm kommen die Tränen. „Das war sehr schön.“ Eine einfache Geste des Mitgefühls. Sie stiftet Verbundenheit.

Zu einer wichtigen Stütze wurde die Trauergruppe. Der erste Versuch, ein Angebot für verwaiste Eltern, war nicht der richtige: „Dort waren fast nur Frauen“, berichtet Holger Guschmann. „Ihre Trauer war mir zu expressiv. Sie hat mich bedrängt.“ Er schüttelt den Kopf. „Beim ersten Mal wurden auch noch Kerzen gebastelt!“ Ganz anders die Gruppe für verwaiste Väter von Thomas Achenbach. „Wir trafen uns einmal im Monat, und die 90 Minuten vergingen wie im Flug. Der andere Vater verstand sofort, was ich meinte und wie es mir ging. Das hat mir sehr gut getan.“

Mit der ihm eigenen Disziplin mühte er sich in alte Routinen zurück, kämpfte um Halt in einem Leben, das der Tod der Tochter aus den Fugen gerissen hatte. Er begann wieder Theater zu spielen. Ein halbes Jahr nach der Beisetzung fragte die plattdeutsche Theatergruppe, der Guschmann seit 30 Jahren angehört, ob er wieder mitmachen wolle. „Ja, ich wollte. Nur eine nicht ganz so derbe Rolle mit viel Klamauk, wie sie zu unseren Stücken gehört. Das hat mir dann unheimlich gut gefallen. Ich musste und muss einfach voll konzentriert sein auf meinen Einsatz, meine Rolle, meinen Text. Das sind Momente, in denen ich mal nicht an Marlene denke.“

Meine Frau und ich haben uns immer gestützt

Es gibt ein Klischee, das sich hartnäckig hält: dass verwaiste Elternpaare einander in der Trauer über den Tod ihres Kindes immer fremder werden und die Beziehung darüber zerbricht. Bei Marlenes Eltern ist das anders. „Meine Frau und ich haben uns immer gestützt“, sagt der Ehemann. „Wir sind uns noch näher gekommen, haben uns oft in den Armen gelegen und miteinander geweint.“ Und es gab Unterstützung. Gleich als klar war, dass Marlene sterben würde, fragte der Kinderarzt die Eltern, ob sie sich einer Psychologin der Krebsberatungsstelle in Osnabrück anvertrauen wollten. „Sie hat uns im Januar 2017 besucht und Marlene noch kennengelernt. Ein gutes Gespräch, sie hat uns ein wenig aufgefangen.“ Sie begleitet das Paar bis zum heutigen Tag.

„Es soll nicht unbescheiden klingen, aber ich bin ein bisschen stolz darauf, wie wir diese Situation gemeinsam gemeistert haben“, sagt Ute Mörking-Guschmann. Sie hat sich nach einer Weile zum Gespräch dazugesellt. Es gleitet in eine lange Reihe von Geschichten über das wunderbare Miteinander der kleinen Familie, über diese Liebe auf den ersten Blick, das fröhliche, wissbegierige und zielstrebige Kind, das Geige lernen wollte, gut in der Schule war und so gerne Museen und Schlösser besichtigte. Ein großer Schatz sind diese Geschichten, und beide erzählen sie gut gelaunt.

Nach einer Weile zitiert Ute Mörking-Guschmann, was sie und ihr Mann in die Traueranzeige für Marlene geschrieben hatten: „Wir sind dankbar für jeden Augenblick, den wir mit dir erleben durften.“ Holger Guschmann horcht dem Satz hinterher. „Ja, das sind wir wirklich.“

Diese Seite:Download PDFDrucken

Danke an Andere Zeiten e. V. für die Bereitstellung von Texten aus dem Magazin "Anders handeln", Ausgabe 3, 2019: Tod, Trauer, Trost

anderezeiten.de

andershandeln.de

Zum Autor

Sven Rohde ist 1961 geboren, verheiratet, zwei erwachsene Söhne. Coach und Autor. Mehr als 20 Jahre Führungserfahrung, erst in einem Konzern, dann als Unternehmer. Seit 1999 selbstständig, bis 2014 mit der Medienagentur just publish, seit 2015 als Freiberufler. Was über die Jahre nicht ausbleibt (und sich in der Rückschau als hilfreich erweist): erfahren auch in Krisen, persönlich, privat und geschäftlich. Leidenschaftlicher Bassist.

Zu seiner Website

to top