Lähmende Trauer

Vor sechs Jahren ist seine Frau gestorben, sie waren 40 Jahre verheiratet. Die Kinder sind groß, leben weit weg, die Enkelkinder gehen schon zur Schule, sie treffen sich an Weihnachten und in den großen Ferien. Ist er einsam?

Ich lerne ihn über den Chor kennen und merke, er ist vielseitig belesen, interessiert an allem, was um ihn herum vorgeht. Als ich ihn besuche, erzählt er, wie traurig und gelähmt er war, als seine Frau starb. Es hat Jahre gedauert, bis er wieder Fuß fasste. Die Kinder wollten ihn schon zu sich nehmen, das wollte er aber nicht: Jede Familie sollte ihr eigenes Leben haben.

Und dann hatte er die Kraft, in einen Museumsverein einzutreten. Er setzte auch seine Mitgliedschaft in der Gemeindekantorei fort – er hat einen strahlenden Tenor – und fing wieder an, sich über die Zeitung, und das Internet über die Welt zu informieren. Vorträge über Kunstgeschichte weckten seine Neugier. Eine Studienreise der Kirchenzeitung brachte ihn mit Menschen in seiner Nähe in Kontakt, alte Klassenkameraden meldeten sich und fragten nach ihm, es geht wieder weiter.

Er ist aus sich herausgegangen, über seine Trauer hinausgewachsen. Er konnte seine Kinder in Frieden ihr Leben leben lassen und hat wieder Energie, seine Begeisterung und seine Neugierde entdeckt.

Ich glaube, die Welt hat ihn wieder. Er hat die schwierige Trauerzeit überwunden und kann sich jetzt wieder zuversichtlich anderen Menschen und Ereignissen zuwenden. Ein vorsichtig geknüpftes neues Netzwerk hält ihn, weist ihm Aufgaben in Kirche und Gesellschaft zu, die ihn herausfordern, ohne ihn zu überfordern und die er gerne wahrnimmt.

Seit einiger Zeit trifft er sich mit einer Dame aus seiner Altersgruppe, er ein Witwer, sie eine Witwe. Es war der Museumsverein, der die Annäherung brachte, so hat er es erzählt. Das Leben gewinnt für ihn neue Farbe, Neugier, Spannung und frische Energie. Das wünsche ich ihm weiterhin von Herzen, ihm und anderen Trauernden.