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Stumme Blicke aufs Meer

Von Sabine Henning, Redakteurin Andere Zeiten e. V.

© GettyImages / Naeblys

Wie trauern Menschen, die auf der Flucht sind? Erfahrungen einer Flüchtlingshelferin auf Lesbos.

Der Mann zeigt ihr Bilder auf dem Handy. Von seiner Familie und seinem Haus in Kabul. Ein schönes Haus ist es, gesäumt von Palmen. Das erkennt sie trotz des winzigen Bildschirms. Er erzählt mit Stolz, dass er beim Sicherheitsdienst der UN gearbeitet hat. Oft sei er als erster bei Anschlägen vor Ort gewesen. Er zoomt mit Zeigefinger und Daumen auf Blutspritzer an einer Hauswand, wie vorher auf das Gesicht seines Sohnes.

In Afghanistan herrscht Krieg. Deshalb hat er sich übers Mittelmeer auf den Weg nach Europa gemacht. Er war einmal angesehen. Jetzt ist er nur noch einer von tausenden flüchtenden Menschen auf der ostägäischen Insel Lesbos. Er lebt in Moria, dem Erstaufnahmelager, das wegen seiner menschenunwürdigen Zustände verrufen ist.

Es sind Szenen wie diese, die Mirjam Oliva (25) einfallen, wenn man sie nach der Trauer von Geflüchteten fragt. Die Sozialarbeiterin aus Freiburg hat im April 2019 einen Monat auf Lesbos gelebt und gearbeitet. In dem Gemeinschaftszentrum »One Happy Family« (OHF), das aus einer privaten Initiative entstand und von einem Schweizer Verein unterhalten wird.

Auf Lesbos sieht sie die angeschwemmten Schlauchboote und Rettungswesten am Strand. Sie beobachtet Männer, die apathisch aufs Meer starren. Und spielt mit Kindern, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen, weil die Eltern alle Kraft darauf richten müssen, sich zurechtzufinden. »Auf der Flucht hat Trauer keinen Raum. Denn dafür braucht es das Gefühl, sicher zu sein«, sagt sie.

Seit ihrer Schulzeit engagiert sich Oliva ehrenamtlich für Geflüchtete. Nach dem Abitur in Berlin absolviert sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in den palästinensischen Gebieten. Während ihres Studiums arbeitet sie mit geflüchteten Frauen in einem Bildungsprojekt in Freiburg. Zweimal in der Woche unterrichtet sie Deutsch. Viele von ihnen sind Jesidinnen aus dem Irak. »Was ich hörte, sah und las, machte mich fassungslos.«

Sie will verstehen, was auf der Flucht passiert und entscheidet sich, nach Lesbos zu gehen. Zwar ist die Mittelmeerroute seit dem Deal der EU mit der Türkei offiziell geschlossen. Doch die Menschen wagen sich weiter in Schlauchbooten von der türkischen Küste nach Griechenland. Auf Lesbos leben sie häufig monatelang im Transit. Sie warten auf eine Aufenthaltsgenehmigung.

Das heillos überbelegte Auffanglager Moria, ein »Hotspot« der EU, beschreiben viele von ihnen als »Hölle«. Von mangelhafter sanitärer und medizinischer Versorgung, Hunger und Gewalt berichten sie. Jean Ziegler, Schweizer Globalisierungskritiker und Berater des UN-Menschenrechtsrates, geißelte die Zustände als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und forderte in einem Interview mit Zeit Online vom Mai 2019, das Lager zu schließen.

»One Happy Family«, nördlich der Inselhauptstadt Mytilini gelegen, sei dazu » Parallelwelt«, sagt Oliva. Sie bezieht ein Zimmer in einer WG in der Stadt. Morgens werden die Freiwilligen mit dem Bus abgeholt. Die rund 100 Helfer frühstücken gemeinsam – ein Großteil von ihnen sind Geflüchtete. Sie verteilen die Aufgaben für den Tag. Um 12 Uhr öffnen sich die Türen. Pro Tag kommen mehrere hundert Männer, Frauen und Kinder.

Mit dem Überleben beschäftigt

An selbst gebauten Tischen und Bänken überall auf dem Gelände essen, reden und ruhen die Besucher. Im Garten sind Sonnenblumen gesät, Petersilie und Gurken wachsen. Es gibt ein Café, Sportgeräte und einen Spielplatz, eine Bibliothek, einen Frisiersalon, eine Werkstatt, einen Bereich für Frauen und ein »Nest für Kinder«, rechtliche Beratung und medizinische Hilfe. Die Container sind bunt angemalt. Und immer spielt irgendwo Musik. »Das ist wie ein Festivalgelände mit friedlicher, entspannter Atmosphäre – und auch eine Form von Trost.«

Oliva ist vor allem dafür eingeteilt, die Kleinen zu betreuen. Sie beobachtet, wie verstört diese sind: Manche springen mitten im Spiel auf und schreien. Oder sie bauen Türme aus Holzklötzen und treten sie auf Kommando ein. Einmal begleitet sie ein Kind mit Windpocken ins Ärztezentrum. Und erinnert sich bis heute an die Umklammerung. »Viele Eltern können nicht für ihre Kinder da sein, weil sie mit dem Überleben beschäftigt sind.«

Zur Essenszeit strömen die Menschen geradezu herein. Aus riesigen Töpfen schöpfen die Köche, eine Fusion aus verschiedenen Küchen dieser Welt. Die Musik ist laut. Eine überdrehte, ausgelassene Partystimmung, die Zukunftsängste vergessen lässt. Das Essen reicht für eine Portion pro Person. Die Helferinnen achten genau darauf, dass jeder etwas bekommt. Oliva muss hungrige Kinder abweisen, die sich zweimal anstellen: »Das war eine der härtesten Aufgaben für mich.«

Die Trauer ist spürbar

Nach der ersten Woche auf Lesbos merkt sie, dass sie Abstand braucht. Die Flüchtenden thematisieren ihre Trauer um den Verlust geliebter Menschen nicht ihr gegenüber. Aber sie ist in vielem spürbar. Sie beginnt, ihre Mittagspause strikt einzuhalten und zieht sich währenddessen in eine ruhige Ecke zurück. Dort schreibt sie ihre Gedanken und Gefühle auf oder tauscht sich mit anderen Freiwilligen aus. Ihr wird bewusst, dass es einen großen Unterschied macht: Die Frauen, mit denen sie zuhause in Freiburg arbeitet, haben ihr Ziel erreicht. Die Menschen auf Lesbos sind noch unterwegs. Doch ihre Lage stagniert. Sie müssen funktionieren um zu überleben. Sie verschnüren die Trauer, damit sie handhabbar bleibt.

Nach der Arbeit läuft Mirjam Oliva den einstündigen Weg nach Hause am Strand entlang: »Ich brauchte das, um zu realisieren, was hier passiert.« Sie beobachtet Menschen, die reglos dasitzen und aufs Meer starren. Manchmal sucht auch sie sich einen Platz im Sand und lehnt sich an ein Boot. Sie betrachtet den Müll und fragt sich, von welchen Menschen er erzählt. Sie fühlt sich als Europäerin und schämt sich für die EU-Flüchtlingspolitik. Nachts träumt sie von ertrinkenden Menschen. Ihre Trauer kann und will sie nicht ignorieren.

Die Karwoche hat begonnen. Sie verordnet sich eine Passionszeit. Lässt zu, was in ihr tobt. Wenn Jesus Fluten stillen kann, wie es in der Bibel steht, warum lässt er Menschen untergehen? Sie liest Trostworte in einem Psalm. Sucht nach Antworten, bleibt ratlos zurück. »Ich habe dann gebetet und die Situation an Gott abgegeben. So konnte ich das, was ich täglich erlebte, besser aushalten.« Sie merkt, wenn sie die Emotionen zulässt, werden sie leichter. In der Trauer steckt Kraft.

Rettungswache an der Küste

Neben der Arbeit im Gemeinschaftszentrum engagiert sich Oliva beim »Boat Spotting«, einer Nachtwache, die ankommende Menschen in Empfang nimmt. Mit Feldstechern ausgerüstet fahren die Helferinnen an der Küste entlang und beobachten das Meer. Einmal sieht sie, wie ein türkisches Küstenschiff ein Schlauchboot aufsammelt. Im April ist es jedoch noch kühl. Weniger Menschen machen sich auf den Weg. Das ändert sich im Sommer. Nach Angaben des »Aegean Boat Report«, einer unabhängigen norwegischen NGO, sind im Juli 2019, als dieser Text entsteht, 67 Boote mit 2380 Menschen auf Lesbos angekommen. Die Zahl derjenigen, die sich über diese Route aufgemacht haben, habe den Stand von 2015 erreicht.

Welche Dimensionen die Flucht übers Mittelmeer hat, versinnbildlicht auch eine Müllhalde im Nordosten der Insel, die Mirjam Oliva einmal besucht. Dort werden die zu tausenden am Strand gefundenen Rettungswesten entsorgt. »Für die internationalen Freiwilligen ist sie zu einem Mahnmal geworden«, sagt sie.

Sie erzählt, dass auch ihre Großmutter als Mädchen geflohen ist, im Zweiten Weltkrieg, aus Ostpreußen. Bevor sie 2016 starb, haben sie oft über diese Zeit gesprochen. Die Sehnsucht nach der Heimat war bis an ihr Lebensende ungestillt. Die Enkelin findet etwas von dieser Heimatlosigkeit in sich. Sie hat drei Geschwister, die Familie ist häufiger umgezogen. Doch obwohl nicht alle an einem Ort leben: Sie halten zusammen, dankbar, dass die Großeltern überlebt haben.

Auch die Menschen in den Camps seien erleichtert, es geschafft zu haben, sagt Mirjam Oliva. Doch sie wollten weiter. Lesbos ist eine Ferieninsel. Die staatliche Marketingagentur wirbt mit »authentischem Sommerurlaub«, »historischen Wundern«, »endlosen Stränden« und Ouzo. Die Flüchtenden hält dort aber nichts. »Sie sehen in Griechenland keine Perspektive.«

Zurück in Freiburg nimmt Mirjam Oliva ihre Arbeit im Bildungsprojekt wieder auf. Durch ihren Einsatz auf Lesbos kann sie besser nachvollziehen, was die Frauen erlebt haben. Unterwegs waren sie fremdbestimmt. Jetzt können sie ihr Leben langsam wieder selbst in die Hand nehmen. Sie lernen Deutsch, sprechen über die Grundrechte und über Feste wie Ostern und Weihnachten.

Die Trauer platzt vor allem bei unverfänglichen Themen herein, wie »Sommer« zum Beispiel. Eine Frau spricht darüber, wie sehr sie ihre Schwester vermisst, die im Mittelmeer ertrunken ist. In solchen Momenten achtet Oliva darauf, dass die Bodenlosigkeit nicht alle anderen mit in die Tiefe reißt. »Das kann ich im Unterricht nicht auffangen. Die Frauen bräuchten eine Therapie, um das Erlebte aufzuarbeiten.« Doch Erfahrungen zu teilen, verbinde die Frauen und die Gemeinschaft trage immer mehr.

Einmal hat Oliva mit den Frauen gesammelt, was hilft, wenn man traurig ist. An der Tafel stand am Ende: reden, schlafen und alleine sein, weinen, spazieren gehen, schöne Sachen machen, die Mutter in Syrien anrufen. All das war auf der Flucht, war auf Lesbos kaum möglich. Doch wenn man den Verlust der liebsten Menschen und der Heimat nicht benennen, nicht betrauern kann, dann fehlt ein Teil vom Ich. Und wie will man sich auf etwas Neues einlassen, wenn man nicht ganz da ist? Mirjam Oliva sagt: »Man braucht Trauer, um anzukommen.«

Im August ist sie wieder nach Lesbos aufgebrochen. Diesmal wird sie länger bleiben.

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