Weiterleben mit Jürgen
Von Armin Himmighofen
Unser Sohn hat am 11. Mai Geburtstag. Wir feiern dieses Datum, denn wir wollen ihn nicht vergessen. Er gehört zu unserer Familie, solange wir leben. Mein Mann und ich haben noch zwei Töchter.
Manchmal werden wir gefragt, ob wir damit etwas verhindern wollen. Sie denken, es sei so eine Art Innenraum in unserer Familie, in dem wir unseren Sohn aufbewahren wollen und zu dem nur wir Zugang haben. Sie denken, wir können gar nicht Abschied nehmen.
Doch wir nehmen Abschied, aber wir lassen nicht los. Abschied bedeutet für uns, dass wir unseren Sohn behandeln, als wäre er an einen Ort verreist, an den wir nicht hin gelangen können. Wir sprechen über ihn und wir stellen uns vor, wie er jetzt aussieht. In diesem Jahr wird er 39 Jahre alt. Er könnte schon selbst Kinder haben. Wahrscheinlich würde er sich rührend um sie kümmern. Er hat als Jugendlicher in der Kirchengemeinde eine Kindergruppe geleitet. Er konnte ausgelassen mit den acht- und neunjährigen spielen, singen und Quatsch machen. Davon erzählen uns heute noch Eltern, die ihre Kinder zu ihm schickten.
Ich kann mich kaum an die Trauerfeier erinnern
Ich sehe ihn mit kurzen Haaren ohne Bart und im Anzug. Das braucht er in seinem Beruf. Er muss seriös aussehen. Wenn ich nach ihm gefragt werde, sage ich, dass er einen Unfall hatte. Aber er hat sich das Leben genommen. Damals war er 22 Jahre alt geworden. Wir waren geschockt. Wir haben uns gefühlt, als wären wir unterwegs auf einem schmalen Pfad am Abgrund entlang. Mein Kopf hat tagelang gedröhnt. Mir war schwindlig. Ich hatte Tabletten verschrieben bekommen, damit ich nichts fühlte und mir war, als wäre ich selbst gestorben. Ich kann mich kaum an die Trauerfeier erinnern. Nach einigen Wochen hatte ich Gelegenheit, mit der Pfarrerin zu sprechen. Sie hat mir ihre Ansprache für Jürgen gegeben.
Richtig erinnern kann ich mich an die Beisetzung der Urne, an das kleine Loch in der Erde, in das wir Blumen werfen konnten. Es war an einem Regentag. Aber als wir um das Grab standen, schien die Sonne durch eine Wolkenlücke. Ihr Licht wirkte wie eine Brücke in den Himmel.
Danach habe ich oft gespürt, dass Jürgen in der Nähe ist. Immer wieder. Es hat mich nicht erschreckt, im Gegenteil, ich habe versucht, ihn noch mehr zu spüren, habe gehorcht und gerochen. Es war mir, als hätte er mich gestreift.
Ich glaube, Tod ist wie ein langer Schlaf
Jetzt sind Jahre vergangen. Wir feiern seinen Geburtstag. Seine Schwestern kommen zu uns, eine bringt auch ihren Partner mit, den sie mit Jürgen vertraut gemacht hat. Er findet es nicht komisch. Er versteht, dass man sein Kind nicht loslassen kann.
Ob wir über Gott reden? Nicht so oft, weil wir verschieden glauben. Meine ältere Tochter sagt, dass Gott nichts mit Jürgens Tod zu tun hat. Sie glaubt, Gott hat alles geschaffen und überlässt uns, was wir damit anfangen.
Mein Mann glaubt an Auferstehung und hofft, dass er erfährt, was Jürgen gedacht oder gespürt hat im Moment, als er „gesprungen ist“, wie er das nennt. Es würde ihm helfen, sagt er.
Ich glaube, Tod ist wie ein langer Schlaf. Alles um einen herum geht weiter und man merkt nichts davon. Nur die Lebenden spüren Schmerz und Trauer und Alleinsein - und Liebe und Nähe zu anderen Menschen. Das macht das Leben aus. Darum feiern wir Jürgens Geburtstag und erzählen uns, wo er sein kann und wie er aussieht. Das ist unsere Wirklichkeit. Wir können bei solchen Gelegenheiten auch wieder herzlich lachen über seine Eitelkeiten.
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