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Kinder trauern anders als Erwachsene

Kuchenteig am Grab

Von Nils Sandrisser, Redakteur Evangelische Sonntags-Zeitung

© Nils SandrisserMit Kerzen und Klangschalen gedenken Kinder ihrer gestorbenen Angehörigen.

Kinder verstehen erst mit der Zeit, was der Tod ist. Wenn kleine Menschen einen Angehörigen verlieren, wirkt ihr Verhalten auf Erwachsene oft befremdlich. Es ist aber wichtig, sie auf ihre Weise trauern zu lassen.

»Ich hab’ mich nie mit meiner Mama gestritten«, sagt Maria (Namen aller Kinder geändert). Die Achtjährige überlegt kurz. Dann schiebt sie hinterher: »Nur, wenn ich kein Fernsehen gucken durfte«.

Marias Mutter ist vor mehr als zwei Jahren gestorben. Sie war mit dem Auto auf der Autobahn unterwegs gewesen. Ein Lastwagenfahrer war am Steuer eingeschlafen. Mit ihrem Bruder Niko kommt Maria seither regelmäßig zu den Lacrima-Treffen der Johanniter Unfall-Hilfe in Frankfurt am Main. Lacrima ist eine spendenfinanzierte Trauerbegleitung speziell für Kinder und Jugendliche.

Denn Kinder trauern anders als Erwachsene, nämlich sehr wechselhaft: Tiefe Traurigkeit schlägt plötzlich in fröhliches Spiel um. Erwachsene sind davon häufig irritiert. »Das ist aber eine sehr gesunde Reaktion«, erläutert der Psychologe Oliver Junker aus Kaufering bei München. »So nehmen sich die Kinder zeitweise aus Situationen heraus, die sie sehr belasten.« Diese Art der Trauer müsse Kindern möglich sein, sagt er.

Bei Lacrima werde viel gelacht, bestätigt die Pädagogin und Kindertrauerbegleiterin Melanie Hinze. Sie leitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Daphne Peter und einigen Ehrenamtlichen die Frankfurter Gruppe. »Die Kinder kommen in der Regel zwei bis zweieinhalb Jahre lang zu uns«, erklärt sie. »Diese Zeit brauchen die Kinder auch.« Ein Jahr lang dauere die akute Trauer, ein weiteres Jahr bräuchten die Kinder dazu, um neue Rituale einzuüben, wenn die wiederkehrenden Termine anstünden. »Das erste Ostern oder das erste Weihnachten ohne den Verstorbenen«, nennt Hinze als Beispiele.

Kinder brauchen Sicherheit - feste Rituale

Sie erzählt von einer Familie, in der der Vater gestorben war. Der erste Geburtstag des Papas nahte. »Die Familie hat zusammen den Lieblingskuchen des Vaters gebacken«, sagt Hinze. »Aber weil der Vater den Teig immer am liebsten roh gegessen hat, haben wir ihnen gesagt, sie sollen zwei Teige machen.« Aus dem einen machten sie einen Kuchen, den anderen vergruben sie in der Erde des Grabs. »Für die Kinder hatte der Vater so teil an seinem Geburtstag.«

Kinder verstehen erst mit zunehmendem Alter, was der Tod eigentlich ist. Als erstes begreifen sie den Worten des Psychologen Junker zufolge das Konzept der Nonfunktionalität – der Körper funktioniert nicht mehr, Herz und Atmung stehen still. Dann verstehen sie, dass der Tod Ursachen hat, also keine Strafe ist. Kleine Kinder beziehen den Tod noch oft auf ihr eigenes Handeln. »Ich hab’ mir gewünscht, dass die Mama tot sein soll, und jetzt ist sie wirklich tot«, denken sie dann zum Beispiel. Schließlich verstehen sie, dass der Tod unumkehrbar ist, und dass er zum Leben dazugehört.

Auch wenn Kinder den Tod noch nicht voll verstehen: Angst und Hilflosigkeit fühlen sie dennoch. Es sei enorm wichtig, ihnen diese Gefühle zu nehmen, erklärt Junker: »Was Kinder brauchen, ist Sicherheit. Die kann man ihnen zum Beispiel geben, indem man feste Rituale zunächst weiterführt.« Zum Beispiel das abendliche Vorlesen. Kinder bräuchten außerdem Erinnerungsstücke an den Verstorbenen, die sie etwa in einer Kiste sammeln könnten. »Die Kinder entscheiden dann selbst, was da hinein kommt«, sagt er. Und sie müssten ihren emotionalen Stress abbauen, durch Toben auf dem Spielplatz oder durch kreative Tätigkeiten wie Malen oder Basteln.

Bei Lacrima wird viel gemalt

© Nils SandrisserÜber Kreativität können Kinder ihre Gefühle besser ausdrücken als über Sprache.

In der Lacrima-Gruppe liest Hinze den Kindern die Geschichte vom Trauerkloß vor, der in seiner dunklen Welt in einer Tüte unter einem Stapel Decken wohnt und mal größer, mal kleiner wird. »Sieht euer Trauerkloß so aus wie mein Trauerkloß?«, fragt sie ihre kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer. Die zehnjährige Karolin, die heute zum ersten Mal hier ist und deren Vater an Krebs starb, meldet sich: »Nein. Weil jeder ist anders, und jeder trauert anders.«

Dann malen die Kinder ihren Trauerkloß. Überhaupt malen sie viel bei Lacrima. Denn Kinder, vor allem kleine, können ihre Gefühle mit kreativer Arbeit besser ausdrücken als mit Sprache. Nikos Kloß ist beige, hat gelbe Haare und blaue Zähne. »Am Anfang sind die Klöße sehr dunkel, im Lauf der Zeit werden sie dann heller«, erläutert Hinze. Oder die Kinder bauen Briefkästen, die sie ans Grab stellen. So bleiben sie mit den Toten in Verbindung.

Jonas ist mit seinen drei Jahren der jüngste in der Gruppe. Er will lieber mit Duplo-Steinen spielen. Darf er. Aber die Klötze stellen ein Krankenhaus dar, mit OP, Patientenzimmern und einem Rettungswagen. »So beschäftigt er sich eben doch mit dem Thema«, erklärt die Kindertrauerbegleiterin.

Das Vertrauen zu dem, der bleibt, wird beschädigt, wenn er die Kinder anlügt

Erwachsene wissen häufig nicht, wie sie mit Kindern umgehen sollen, die einen nahen Angehörigen verloren haben. Sogar die eigenen Eltern wissen das oft nicht. Dabei könne man eigentlich nur einen einzigen Fehler dabei machen, sagt Hinze: »Nicht ehrlich sein.« Denn die Kinder hätten dann ja nur noch einen Elternteil. »Und das Vertrauen zu dem, der bleibt, wird beschädigt, wenn er die Kinder anlügt.« Nur einmal habe sie ein Kind für die Lacrima-Gruppe abgelehnt, berichtet sie. Dessen Vater habe sich umgebracht, aber die Mutter wollte nicht, dass der Sohn das erfahre. Konstruktive Trauerarbeit sei so nicht möglich.

Am Ende des Lacrima-Treffens zünden die Kinder Kerzen an und erzählen sich gegenseitig, woran ihre Angehörigen gestorben sind. Jedes Kind ist reihum dran. Sie schlagen eine Klangschale an, und während der Ton verklingt, denken sie an ihre Mütter oder Väter.

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Unterstützung für Lacrima

Lacrima ist eine spendenfinanzierte Trauerbegleitung speziell für Kinder und Jugendlich, organisiert von der Johanniter Unfall-Hilfe in Frankfurt am Main.

Lacrima freut sich über Ehrenamtliche, die mitarbeiten möchten. Infos unter Telefon 0 69 / 36 60 06-700 oder  per Email 

Spenden für das Lacrima-Projekt auf das Konto mit der IBAN DE88 5005 0201 0000 2487 20 unter dem Stichwort »Lacrima«

Zum Weiterlesen

Gertrud Ennulat
»Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten«
Herder Verlag 2009, 160 Seiten, 6,99 Euro

Amelie Fried / Jackie Gleich
»Hat Opa einen Anzug an?«
Carl Hanser Verlag 1997, 30 Seiten, 14,90 Euro

Leitfaden zum Umgang mit trauernden Kindern

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