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Das Flüstern des Jenseits

Eine kleine Galerie vom Sterben

Vortrag von Heinrich Steinfest beim Studientag "Am Ende des Lebens. Trauer und Hoffnung im Angesicht des Todes." der Evangelischen Akademie am 8. Februar 2019

© Getty / Milan Markovic

In Romanen und Filmen ist der Tod mit großer Häufigkeit präsent, nicht nur dort, wo er das Hauptthema darstellt oder im Falle von Kriminalgeschichten als der auslösende Moment einer Ermittlung auftritt, sondern im Grunde in einer jeden Geschichte, die das Leben behandelt und damit eben auch konsequenterweise die unvermeidbare Beschließung dieses Lebens.

Es gibt eigentümliche Momente beim Verfassen einer fiktiven Geschichte mit fiktiven Figuren, wenn das Sterben, der baldige Tod einer dieser Figuren offenkundig wird. Als Autor sollte man es ja eigentlich in der Hand haben, dieses zu verhindern. Hat man denn nicht alle Möglichkeiten, heilsam einzugreifen? Natürlich, der Tod dieser einen Figur oder gar mehrerer Figuren mag dem Plot, der Konzeption, der Idee von der Geschichte zu verdanken sein, und doch ist da der Augenblick, da der Autor eine Art Hilferuf der Figur vernimmt, den Ruf danach, ein besseres Ende zu verfassen, den Tod hinauszuschieben – nächstes Jahr, übernächstes Jahr, später, gnädiger –, oder halt mal zu überlegen, ob der Plot nicht auch ganz anders aussehen, diese Geschichte sich nicht ganz anders entwickeln könnte. Die gleiche Figur, aber ein anderes Buch.

Die Figur sagt: „Denken Sie denn gar nicht an eine Fortsetzung, die es ohne mich nicht geben würde?“ Der Autor darauf: „Ich kann die Zukunft, ich kann das, was demnächst geschieht, nicht umschreiben, nur um ein Weiterleben möglich zu machen. So weit geht meine Macht nicht.“ „Aber es ist doch Ihr Buch?“ erklärt die Figur. „Und es ist Ihr Leben“, erwidert der Autor. „Aber Sie müssen das doch verdammt noch mal in der Hand haben!“ klagt die Figur und schlägt auf den Tisch. Weniger wütend als verzweifelt. Es ist ein derartiger Schmerz in ihrer Stimme, daß man sie, die Figur, umarmen möchte.

Es genügt die Erinnerung

„Wozu ich in der Lage bin“, sage ich zu meiner Figur, „ist es, Sie zu beschreiben, nicht nur, wie sie sind. Ich kann sie auch idealisieren oder karikieren, ich kann Gutes oder Schlechtes unterschlagen oder Gutes oder Schlechtes hervorheben, ich kann eine Wahrheit oder eine Lüge über Sie erzählen, und glauben Sie mir, ich bemühe mich um eine gute Wahrheit, aber ich habe es nicht in der Hand, wie und wann Ihr Leben endet. Kein Autor hat das. Die Macht des Autors über Leben und Sterben seiner Figuren ist eine Illusion. Es kommt, was kommen muß und entscheidend ist allein, was auf dem Weg dorthin geschieht. Auf welche Art Sie handeln und auf welche Art ich davon berichte.“

„Aber Sie können mich doch auferstehen lassen, oder? Literatur darf das. Sie dürfen ein Wunder zulassen.“

Stimmt, darin besteht eine große Verführung. Zwar nicht den Tod einer Figur zu verhindern, aber sie ins Leben zurückzuholen. Dazu braucht es nicht unbedingt ein Wunder. Es genügt die Erinnerung. Die Erinnerung an einen Menschen, an ein Wesen, selbst noch an einen Gegenstand, läßt diese, den Menschen, das Wesen, den Gegenstand, auf eine gewisse Weise am Leben bleiben. Bilder, Fotos, Andenken, Erzählungen, Spuren.

Es gibt einen Charakter im „Figurenpark“ meines Romanwerks, der mehrmals tot schien und der doch – und zwar in großen Abständen, die dem Prinzip simpler Serien-Fortsetzung widerspricht – immer wieder auftauchte. Und ich denke, es ist die Erinnerung an diese Figur, die sie immer wieder aufs Neue zum Helden einer Geschichte machte. Ich möchte es so ausdrücken: Ich hatte mich einfach noch nicht genug an diese Figur erinnert. Die Erinnerung war noch nicht in einer Weise ausgeführt, die der Figur wirklich gerecht werden würde. Denn mitunter kann Erinnerung zu einer Genauigkeit führen, die die Dinge des Lebens präziser erscheinen lassen als in jenem Moment, da wir sie erfuhren oder beobachteten.

Es ist diese Genauigkeit – und die in der Genauigkeit beinhaltete Liebe, Fürsorge und Trauer – die eine Art von Auferstehung bewirkt. Jeder sollte einen haben, der sich nicht nur gerne, sondern auch genau an ihn erinnert. Und ich meine damit nicht allein Figuren aus einem Roman.

So unvorstellbar Unendlichkeit ist, viel unvorstellbarer erscheint eigentlich ein Anfang und ein Ende

Ich möchte Ihnen nun ein paar Beispiele künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Sterben, dem Tod und unserer Vorstellung geben, daß mit dem Tod eine Verwandlung erfolgt, so wie ja möglicherweise auch unser Eintritt ins Leben als Resultat einer Verwandlung gelten kann. So unvorstellbar Unendlichkeit ist, viel unvorstellbarer erscheint eigentlich ein Anfang und ein Ende, die wie zufällig hingeworfene Stöcke ein Spielfeld markieren, das in einem Nichts zu schweben scheint. Ein Spielfeld, auf dem ein gleichermaßen hochkomplexes wie völlig sinnloses Spiel gespielt wird, dessen Resultat verpufft, sobald man es wieder verläßt.

Beginnen wir mit einer Graphik von Käthe Kollwitz (1867 - 1945): Ruf des Todes, das letzte Blatt in einer Folge von acht Kreidelithographien zum Thema „Tod“ aus dem Jahre 1937. In den Jahren 1934 bis 1937 schuf Kollwitz diesen Zyklus vom Tod, den sie bereits 1927 plante, dann aber erst 1934, möglicherweise unter dem Eindruck des Todes ihres Schwagers Georg Stern in Angriff nahm.

Die Titel der einzelnen Blätter geben bereits Auskunft über den unterschiedlichen Zugang zur Thematik. Da ist sowohl von der brutalen Intervention des Todes die Rede, etwa Tod greift in Kinderschar oder Tod packt eine Frau, bis hin zu fast zärtlichen Momenten, man nehme die Blätter Tod hält Mädchen im Schoß oder Tod wird als Freund erkannt.

Das achte Bild nun trägt den im Vergleich geradezu schlichten Titel Ruf des Todes. Die anderen Blätter entsprechen jener Dramatik, die wir oft mit dem Tod verbinden: das Abrupte, Überwältigende, Schmerzhafte, Perfide, den Skandal des Tods, die Ungerechtigkeit, das Fragwürdige. Dann wieder etwas geradezu Libidinöses: die herbeigesehnte Erlösung, eine Befreiung vom Leben. Beiden Tendenzen haftet etwas Umschlingendes an, ein Fort- und Mitreißen.

Der Tod unterbricht ein Gespräch. Das Gespräch des Lebens

Nicht so im achten Bild. Der Tod tritt hier auf eine zugleich sachte wie bestimmte Weise auf. Eine bloße Hand, eine feine Berührung. Der Tod unterbricht ein Gespräch. Das Gespräch des Lebens. Eben wollte die dargestellte Figur – die die gealterten Züge der Künstlerin trägt – noch etwas sagen. Ihr ausgestreckter Finger wirkt als unterstreichende Geste einer beginnenden, verstärkenden oder widersprechenden Argumentation. Der Tod kommt aber nicht als unheimliche Macht über das Leben, sondern er erinnert an das Unvermeidbare. Nicht als jemand, der dieses Unvermeidbare bestimmt, sondern es verwaltet. Aber es ist dennoch keine bürokratische Geste, eher eine mütterlich-väterliche Berührung. Es ist Zeit!

Die solcherart „Berührte“ wird nicht herausgerissen oder herausgezogen aus dem Gespräch. Und darin liegt vielleicht das Paradoxe der Darstellung, wie wenig dem scheinbar so plötzlich auftretenden Tod etwas Eiliges oder Zupackendes anhaftet.

Das mag damit zusammenhängen, daß der Tod ja schon immer da war, den Menschen ein Leben lang begleitend, aber nicht wie einer, der nur auf eine günstige Gelegenheit wartet einzugreifen, auf ein Unglück, eine Krankheit, auf einen von seinem tödlichen Standpunkt „glücklichen“ Zufall: zusammenstoßende Autos, übertragene Viren, falsche Personen an falschen Orten. Oder wie da irgendeine Maßlosigkeit auf eine Schwäche des Körpers trifft. Oder halt das hohe Alter seine Wirkung tut. Nein, er ist ein Begleiter von Beginn an, kein Freund, kein Feind, aber ein Trabant. Er umkreist den Menschen in einer Umlaufbahn, mal sichtbar, mal unsichtbar, das ist ja eine Frage der Position und der Aufmerksamkeit und der Umstände. Er ist ein Begleiter, der sich auf Kollwitz’ Graphik mit einer Berührung der Schulter in Erinnerung bringt. Keine Kollision, kein Einschlag, aber eine Unterbrechung, mit der für den Augenblick dieser Berührung alles zum Stillstehen kommt.

Sodass der um die eigene Achse sich drehende Körper in seiner Bewegung erlahmt. Die Frage wäre nur, ob damit auch die Bewegung durch den Raum endet. Also der Planet Mensch in dem Moment, da seine Eigenrotation völlig zum Erliegen kommt, auseinanderbricht, implodiert, verglüht, sich auflöst wie ein Wort, das, weil es sich nicht mehr aussprechen lässt, seine Existenz verliert. Oder aber bloß jene Eigenrotation einbüßt, sich aber durchaus weiterbewegt. Somit das Wort fortgesetzt wird, Bestand hat.

So sehr in diesem Fall die Hand des Todes dem Leben Einhalt gebietet, wäre es aber auch eine Hand, die eine neue – eine neue und gleichzeitig eine weiterführende – Form der Bewegung einläutet. Anhand dieser Geste der Berührung geradezu den Weg freimacht. Etwas unterbricht und im Unterbrechen begriffen etwas eröffnet.

„Ich habe mein ganzes Leben lang“, schrieb der Pianist Glenn Gould kurz vor seinem Tod, „das ungemein intensive Gefühl gehabt, dass es tatsächlich ein Jenseits gibt. Andererseits habe ich nicht die geringste objektive Vorstellung von diesem Jenseits und muss zugeben, dass es sehr verführerisch ist, eine beruhigende Theorie vom ewigen Leben zu formulieren und sich damit selbst über die Unabdingbarkeit des Todes hinwegzutrösten. Aber ich bilde mir ein, nicht so zu denken und diese Ideen nicht als ein bequemes Mittel der Selbstberuhigung zu pflegen. Es gibt für mich in diesen Dingen etwas, das ich intuitiv als wahr betrachte; ich musste mich nie krampfhaft darum bemühen, mir die Wahrscheinlichkeit eines jenseitigen Lebens einzureden. Es erscheint mir einfach viel einleuchtender zu sein als das Gegenteil, als das Nichts und das Vergessen.“

Es ist also bei Gould nicht der Wille, sich Dinge einzureden, die tröstlicher sind als eine schreckliche Wahrheit vom Nichts, sondern sein „Glaube“ resultiert aus der Konsequenz von Gedanken, in denen eine Art von Leben nach dem Tod – eine weiterführende Bewegung des „Planeten Mensch“ mitsamt der Erinnerung an das Leben und das Erlebte – schlichtweg logischer und folgerichtiger erscheint als simple Pulverisierung und pures Verlöschen des einmal Gedachten. Von Goulds Warte aus trüge der Glaube an ein Nichts – und es ist ja immer ein Glaube, da wie dort – also eher irrationale Züge: sich fantastischerweise vorzustellen, dass aus etwas nichts wird. Etwas vollkommen verloren geht.

Zweifel ist ohnehin ein vernünftiges Mittel, an die Sache heranzugehen

Von Friedrich Hebbel stammt ein Spruch, der in sich eine schreckliche Konsequenz trägt und gleichzeitig zutiefst tröstlich ist: Der Tod eines heißgeliebten Menschen ist die eigentliche Weihe für eine höhere Welt. Man muss auf Erden etwas verlieren, damit man in jenen Sphären etwas zu suchen habe.

Wie ich zuvor meinte, jeder sollte einen haben, der sich nicht nur gerne, sondern auch genau an ihn erinnert, möchte ich anschließen, dass auch jeder ein Stück Musik verdienen würde, das seinem Andenken gewidmet ist. Und es ist ja absolut folgerichtig, der Trauerfeier für einen Verstorbenen ein Musikstück beizufügen, das mehr ist als ein Ornament der Trauer. Und was würde sich besser eignen als die Musik, die gleichsam als ein Transportmittel in jene Hebbelschen Sphären dient.

Sphären, die wir uns vorstellen, dass sie sind. An denen wir zweifeln, dass sie sind. Zweifel ist ohnehin ein vernünftiges Mittel, an die Sache heranzugehen. Der Zweifel ist wie das Handwerkszeug – Grobes wie Feines, Hämmer wie Feilen –, mit dem das Erahnte und das Hinterfragte eine Form erhält. Was Arthur Schnitzler so schön ausdrückte, indem er meinte: Dass wir Gott ahnen, ist nur ein unzulänglicher Beweis für sein Dasein. Ein stärkerer ist, dass wir fähig sind, an ihm zu zweifeln.

Oder, um mich jetzt selbst zu zitieren, mein Eindruck sei, niemand würde sich so intensiv und mitunter auch aufrichtig mit Gott unterhalten wie die, die nicht an ihn glauben. Oder eben genauer: die an ihm zweifeln. Ganz im Unterschied zu denen, die an ihm verzweifeln.

Musiken können uns dadurch trösten, indem sie exemplarisch an den Verstorbenen erinnern, an sein Wesen, seine Leidenschaft – und es wäre schlimm, würden wir eine Musik wählen, die nicht ihm, dem Toten, sondern uns, den Zurückbleibenden, angemessen erscheint, wie dies vielleicht hin und wieder geschieht und einer über den Tod hinausweisenden Rechthaberei gleichkommt – Klassik statt Pop, Pop statt Klassik.

Viel schlimmer ist, wenn dem Toten irgendeine Verbitterung mitgegeben wird

Und wer da redet! Und wie er redet! Wir beklagen oft, dass am Grab viel gelogen wird bezüglich des Verstorbenen, zumindest einiges geschönt erscheint. Aber viel schlimmer ist doch, wenn dem Toten irgendeine Verbitterung mitgegeben wird, eben nicht nur mittels einer falschen Musik, auch indem die Hinterbliebenen bereits spürbar in den Startlöchern eines Erbes stehen. Also ich meine, in diesem Moment organisierten Abschieds sollte etwas geschehen, das sich wie ein letztes Puzzleteil in das Leben dessen fügt, der dieses Leben nun verlässt.

Unter all den Musiken zwischen Albinonis Adagio, Bachs Air und Helene Fischer, Schuberts Liedern vom Schmerz, Avo Pärts Spiegel im Spiegel und den Rolling Stones, möchte ich hier – gewissermaßen der Hand aus Käthe Kollwitz’ Ruf des Todes folgend – das Violinkonzert von Alban Berg herausstellen, und ich gestehe, es ist auch der Titel dieses Stücks aus dem Jahre 1935, der mich seit jeher bewegt: Dem Andenken eines Engels.

Mit „Engel“ ist Manon Gropius gemeint, die Tochter Alma-Mahler-Werfels aus ihrer Ehe mit Walter Gropius, die siebzehnjährig bei einem Aufenthalt in Venedig an Kinderlähmung erkrankte und ein Jahr später daran verstarb. Ein Tod, der das befreundete kinderlose Ehepaar Berg schwer traf und den Komponisten dazu bewegte, sein geplantes Violinkonzert als ein Andenken an die junge Frau zu formulieren. Zwei Sätze, die im Zuge ihrer Unterteilung die Färbung eines Requiems besitzen. Ein erster Satz, der das Leben Manons musikalisch nachzeichnet – eine Kärntner Volksweise, einen Wiener Walzer zitierend –, wie hier das Leben eines Menschen eine klangliche Verdichtung erfährt. Keine Skizze, kein ausgeführtes Gemälde, keine Erzählung, sondern das klangliche Konzentrat eines im Leben gewesenen Menschen. Seine Spur. Sein Abdruck. Und wie dann dieses konzentriert Biographische im zweiten Satz zum Grundsätzlichen des Todes führt, in dem wir alle eins sind, bezeichnenderweise mit einem Bachzitat zum Schluß, dem Choral aus der Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort, jenes Es ist genug.

Alban Berg erlebte die Aufführung des Violinkonzerts nicht mehr. An einen Engel denkend, schuf er sein letztes Wort. Seine letzte Spur. Ein Mann, von dem Adorno sagte: „Er wusste dem Tod sich stets so nahe, dass er das Leben als Provisorium nahm, ganz nur dem zugewandt, was bleiben könnte, dabei ohne Härte und ohne Egoismus.“

„Bild des Hypochonders“

Kunst – und ich weigere mich, jetzt allein von großer Kunst zu sprechen, denn Rührung und Berührung gehen ja vom Rezipienten und nicht vom Kritiker aus –, ist selten bis nie ein wirklicher Ratgeber, sondern ein Trostspender. Der Trost ergibt sich aus dem tiefen Verständnis, das die Kunst durch sich selbst entwickelt und dabei einem jedem gerecht wird (auch dann, wenn man sie nicht ganz versteht). Kunst, die nicht postuliert, wie jemand anders und besser leben und anders und besser sterben sollte, klüger, gelassener, leidenschaftlicher, vernünftiger, aufgeklärter, gläubiger, nein, sondern beschreibt, was ist, aber in verwandelter Form, sonst wär’s ja keine Kunst. Doch genau diese Verwandlung schafft einen Akt der Befreiung. Kunst ist eigentlich immer eine Form von Auferstehung.

Zur Kunst und dem Moment des Befreienden gehört ganz unmittelbar das Komische: die Komik zu erkennen, die in den Dingen und Verhaltensweisen steckt und aus eben dieser Komik die Kraft zu beziehen, das Leben und die Furcht vor dem Tod auszuhalten.

Wenn man meine kleine Folge von Beispielen als eine Galerie bezeichnen darf, dann würde nun das „Bild des Hypochonders“ folgen, der mir weniger als ein „eingebildeter Kranker“ erscheint, sondern vor allem als jemand, der – um nun weiterhin beim Symbol des Trabanten zu bleiben – ein besonders stark entwickeltes Bewußtsein besitzt, vom Tod begleitet, vom Tod unentwegt umrundet zu werden. Er sieht den „Mond“ auch dann, wenn dieser nicht zu sehen ist.

Kaum jemand hat die Komik des in dauernder Furcht vor dem Tod und dem Sterben lebenden Hypochonders besser herausgearbeitet als Woody Allen, der in mehreren Filmen den Tod leibhaftig auftreten läßt, etwa in Die letzte Nacht des Boris Gruschenko, wenn Boris entgegen der gerade ausgesprochenen Behauptung, tot zu sein sei schlimmer als die Hühnchen in Treskis Restaurant, gleich darauf aber meint, es gebe Schlimmeres als den Tod – wer einmal einen Abend mit einem Versicherungsvertreter verbracht habe, wisse genau, was er meine. Jedenfalls tanzt Boris höchst vergnügt zur Troika von Prokofjews Leutnant Kishe hinter dem weiß bekleideten Sensenmann her, entlang eines Sees durch eine Allee hindurch, während auf der rechten Seite des Bildes The End auftaucht, als sei’s der Titel für einen neuen, anderen Film.

Die Figur des Hypochonders, die Allen etwa im Film Hannah und ihre Schwestern verkörpert, ist die eines in seiner Angst wahrhaft unheilbaren Mannes, eines Fernsehproduzenten, den ein Hörsturz im rechten Ohr und eine diesbezügliche Untersuchung in höchste Panik versetzt und der vollkommen besessen ist von der „negativen Seite des Spektrums“, der Möglichkeit eines Tumors. Als seine Assistentin versucht, ihn zu beruhigen und ihn daran erinnert, dass er vor zwei Monaten dachte, er hätte ein bösartiges Melanom, sagt er: „Ich weiß, weil da plötzlich ein schwarzer Flecken auf meinem Rücken aufgetaucht ist.“ „Er war auf deinem Hemd“, erinnert ihn die Assistentin. Er aber: „Woher sollte ich das wissen, jeder hat da hingezeigt.“

Zwar phantasiert die von Allen gespielte Figur – und man kann sich gut vorstellen, wie hier Figur und Schauspieler eine Kreuzung darstellen –, phantasiert also ein fatales Ergebnis der Untersuchungen seines Gehirns herbei, letztlich aber stellt sich heraus, dass wieder einmal alles in Ordnung ist. Natürlich führt das für einen Moment zu großer Erleichterung und Euphorie. Zu lebensbejahender Jazzmusik springt Allen über die Straße, bevor er mit einem Mal in Nachdenklichkeit erstarrt, im Angesicht eines Todes, der zwar nicht heute, auch nicht morgen, aber irgendwann … Diese banale Wahrheit paralysiert ihn, der „dünne Faden, an dem wir alle hängen“. Absurderweise behauptet er, bislang den Tod verdrängt zu haben – genau das Gegenteil ist der Fall, eher ist er wie einer, der mit dem Fernrohr seinen höchstpersönlichen Trabanten stets beobachtet und wir wissen ja, wie nahe Gegenstände anmuten, die wir durch Fernrohre zu uns heranholen.

Als Fernsehproduzent will er kündigen. Er erklärt, die Präsenz des Todes nehme einem die Freude an allem und sagt zu seiner Assistentin: „Du wirst sterben, ich werde sterben, das Publikum wird sterben, der Sender wird sterben, und … alles.“ „Ich weiß“, antwortet seine Assistentin, „und dein Hamster.“ „Ja!“

Die Figur ist in ihrer Angst unbelehrbar. Aber sie offenbart eben auch die Komik dieser Angst, die dazu führt, einen Tintenklecks auf dem Hemd für ein bösartiges Melanom zu halten. Eine Angst, die die Figur letztlich aber doch antreibt und ihr paradoxerweise doch eine ganz eigene Lebensenergie spendet. Eine Lust am Leben und an der Liebe, gleich wie endlich dieses Leben und diese Liebe auch sein mögen.

In Noah Baumbachs The Meyerowitz Stories, in dem Dustin Hoffman einen gealterten, als Vater wie in seiner Kunst gescheiterten Bildhauer spielt, kommt es zu einer abschließenden Szene, als Vater und Sohn vor dem Fernseher sitzen und sich einen alten Schwarzweißfilm ansehen und Hoffman meint: „In den Filmen aus den 30ern tragen die Männer immer einen Smoking. Jetzt ist alles viel legerer.“ „Vielleicht haben sie sich schick gemacht“, antwortet sein erwachsener Sohn, „weil das Leben damals kürzer war und sie es feiern wollten.“

Ich denke, genau das gilt auch für den Hypochonder. Seine Hypochondrie ist wie der Smoking, mittels dessen er das Leben, um das er so bangt, feiert. Er sieht es stets bedroht, erkennt dessen ungemeine Fragilität, lebt dauernd im Bewusstsein der Kürze und der unheimlichen Plötzlichkeit, mit der es enden kann, doch seine eingebildeten Krankheiten und übertriebenen Ängste sind der Smoking, mit dem er das Leben feiert... Und wirklich, viele Hypochonder erkennt man in Wartezimmern an einer speziellen Art von Schick.

Diese kleine Woody-Allen-Sequenz haben wir ja mit der letzten Nacht des Boris Gruschenko begonnen, in dem sich auch diverse parodierende Verweise auf die Filme Ingmar Bergmans finden, vor allem auf dessen mittelalterliches Mysterienspiel Das siebente Siegel, eine Darstellung des Todes, die in das Bewusstsein unserer Kultur eingegangen ist.

Er, der Tod – kontrolliert, sachlich, aber nicht ohne Pose, nicht ohne Ironie, etwa wenn er behauptet, „unwissend“ zu sein – spielt mit dem Ritter Antonius Block um dessen Leben. Basierend auf Albrecht Dürers Kupferstich Der Ritter, der Tod und der Teufel. Es ist übrigens eine schöne Umkehr, wenn Woody Allen in seinem Gruschenko-Film den bei Bergman schwarz gekleideten und mit den schwarzen Spielfiguren gegen einen lebensmüden und zugleich todesunwilligen Menschen Schach spielenden Tod ein weißes Gewand tragen läßt. So wechselt der Tod in der Parodie die Farben.

Seien wir froh, wenn das Leben nach dem Tod nicht wirklich käuflich ist

Er, der Tod – kontrolliert, sachlich, aber nicht ohne Pose, nicht ohne Ironie, etwa wenn er behauptet, „unwissend“ zu sein – spielt mit dem Ritter Antonius Block um dessen Leben. Basierend auf Albrecht Dürers Kupferstich Der Ritter, der Tod und der Teufel. Es ist übrigens eine schöne Umkehr, wenn Woody Allen in seinem Gruschenko-Film den bei Bergman schwarz gekleideten und mit den schwarzen Spielfiguren gegen einen lebensmüden und zugleich todesunwilligen Menschen Schach spielenden Tod ein weißes Gewand tragen lässt. So wechselt der Tod in der Parodie die Farben.

Es gibt für mich eine besondere Schlüsselszene in Bergmans 1957 gedrehtem Film, als der von den Kreuzzügen in seine von der Pest verwüstete Heimat zurückgekehrte Ritter im Gespräch mit dem Tod resigniert erklärt, er selbst würde gar nicht mehr in der wirklichen Welt leben und sei in den Träumen seines Ichs eingeschlossen.

„Und trotzdem willst du nicht sterben?“ fragt der Tod. „Doch. Ich will.“ „Und warum zögerst du?“ „Ich will Gewissheit haben.“ Darauf der Tod: „Du willst Garantien haben.“ „Nenn’ es wie du willst“, entgegnet Block missmutig.

Aber in der Tat, es ist ein Unterschied zwischen dem Bedürfnis nach Gewissheit und dem nach Garantien. Könnte es nicht sein, dass wir so manches übersehen, so manche Form verkennen, weil uns in Wirklichkeit gar nicht so sehr nach Erkenntnis ist, sondern nach einem Geschäft? Nicht nach Wissen, sondern nach einem Vertrag? Man stelle sich eine Versicherung gegen das Sterben vor. Oder ein erwerbbares Leben nach dem Tod (was es ja mit dem Ablasshandel auf eine gewisse Weise schon mal gab). Wäre das Dasein im Jenseits dann ähnlich absurd wie die Entwicklung von Mietpreisen und Immobilienspekulationen und steigenden Aktien im Zuge der Ankündigung einer Rationalisierung? Wollen wir uns ein Jenseits denken, in dem der Verteilungskampf auf eine immaterielle Weise fortgesetzt wird? Ewiges Ringen? Ewige Konkurrenz? Ewiges unstillbares Begehren? – Seien wir froh, wenn das Leben nach dem Tod nicht wirklich käuflich ist. Man stelle sich echte Freiheit vor.

Am Ende des Films beobachtet einer der fahrenden Gaukler, wie am Horizont der Tod die verschiedenen Menschen – den im Schach unterlegenen Ritter und seine Begleiter – hinter sich herzieht. Er beschreibt es seiner Frau: „Der gestrenge Herr Tod bittet zum Tanz. Sie halten sich an den Händen, sie tanzen hinter ihm her, wie er es will, und er selber geht voran, der Herr mit Sense und Stundenglas […] Die Schatten werden dunkler, fort vom Tag zieh’n sie in die Nacht in feierlichem Tanz, fort in ein verborgenes Land, der Regen strömt über ihre Gesichter, er spült ihnen das Salz der Tränen von ihren Wangen.“

Seine Frau, die ja direkt danebensteht und ebenfalls zum Horizont sieht, ihr Baby im Arm, meint lachend: „Was du immer siehst.“

Keine Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck seiner Furcht

Tränen im Regen, so heißt es auch in der gleichermaßen ikonographischen Schlussszene aus Ridley Scotts SF-Film Blade Runner, wenn der künstliche Mensch, der Androide Roy Batty, dessen Programmierung ihm bei aller Robustheit seines Körpers und Überlegenheit seines Intellekts eine nur vierjährige Lebensdauer gewährt, wenn Batty also seinem unterlegenen Jäger, dem titelgebenden Blade Runner, von jenen unglaublichen Dingen erzählt, die er draußen im Weltall sah. Und auch wenn, oder gerade weil es Bilder vom Krieg sind, so spiegeln sie Battys Verlangen nach Poesie wieder, nach einer Verwandlung im Wort. Dinge gesehen zu haben, „die ihr Menschen niemals glauben würdet.“

Und doch hat Batty keine Antworten erhalten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck seiner Furcht – und darin ist er dem Ritter Antonius Block sehr ähnlich. Aber seine Verzweiflung ist würdevoller. Während er da auf dem Dach eines Hochhauses steht, im Dauerregen, der den Erdball einhüllt, und sein künstlicher Körper verlöscht, erklärt er – mit einem Blick, der mehr etwas Vergebendes als Anklagendes besitzt –, dass all diese erlebten Momente verloren sein werden in der Zeit. So wie Tränen im Regen.

„Zeit zu sterben.“ - Glauben Maschinen an ein Leben nach dem Tod? Und sollten sie es einmal wirklich tun, wäre es der Beweis dafür, dass sie eine Seele entwickelt haben? Weil eine Seele nun mal keine Frage des Materials ist, aus dem einer besteht. Und wie würden sich die Maschinen Gott vorstellen? Logischer?

Das Fiktive als eine Land- und Erinnerungskarte des Realen

Ich habe fast dreißig Jahre benötigt, um den Tod meines Bruders, der im Alter von dreiundzwanzig Jahren zusammen mit seiner Freundin beim Bergsteigen tödlich verunglückte, literarisch zu verarbeiten. Nicht in einem streng biographischen Sinn, sondern eben in der literarischen Metamorphose einer fiktiven Geschichte. Das Fiktive als eine Land- und Erinnerungskarte des Realen. Das Fiktive und Phantastische als die Möglichkeit einer Vergegenwärtigung des einst Geschehenen. Was ich meine, ist die Seele der Geschehnisse. Ihr Kern. Ihr Wesen.

Dazu der unweigerliche Abschied, die unweigerliche Unsicherheit, ob sich denn alles so und nicht anders zugetragen hat, Sehnsucht nach dem Wiedersehen, Gedanken über das Versäumte – und da ist immer etwas, was versäumt wurde –, ein Schwanken zwischen Eugen Roths schmerzvollem „Wie schön es gewesen wäre, wie traurig es war“ und der Freude ob all dem, was da einst gelebt wurde, ja, das überhaupt gelebt werden durfte. Das, was eben nicht versäumt wurde. Dass da etwas ist, das zu erinnern und zu beschreiben sich lohnt. Ein Lohn der Trauer.

Meine Erinnerung an meinen Bruder fand sodann Eingang in einen Roman, Der Allesforscher, dessen Hauptfigur, ein vom Manager zum Bademeister – ich würde sagen – gereifter Mann (ohne dass ich grundsätzlich ausschließen möchte, man könnte auch in umgekehrter Richtung reifen), wie dieser also den Berg aufsucht, an dem seine Schwester einst tödlich verunglückte und wie er nun, zusammen mit einem Kind, das nicht sein leibliches ist, und ihn doch ganz unmittelbar zu einem Vater werden lässt, nahe dieses Berges in einen Stollen gerät. Dort, in einem kabinettartigen Felsraum, gerät der Ich-Erzähler in einen Schlaf und im Schlaf in einen Traum, in dem er seine Schwester wiederfindet. Denn dies scheint ein probates Mittel der Toten, den Lebenden im Traum – in einer Welt der Übergänge – zu begegnen. „Astri kam jetzt ganz nahe heran und setzte sich wie ein kleines Mädchen auf meine Schenkel. Auch wenn sie gealtert war, war sie noch immer so federleicht wie in ihrer Jugend, nicht gewichtslos, wie man sich das bei einem Geist vorstellt, sondern eben einfach so, als sei kein Gramm hinzugekommen.“

Gibt es das, ein Flüstern aus dem Jenseits? Ich denke, die Künste sind eins der Mittel, diesem Flüstern eine hörbare Gestalt zu verleihen. - Ich würde zum Schluss gerne etwas sehr, sehr Gescheites über den Tod sagen, aber möglicherweise …

Stattdessen ende ich mit einem der schönsten Sätze, die jemand einem Sterbenden zueignete. Es war der dänisch-jüdische Dichter Meir Aron Goldschmidt, der dem im Sterben liegenden norwegischen Dichter Henrik Wergeland schrieb: „Wergeland, wenn ich an Sie denke, bin ich stolz, ein Mensch zu sein.“

 

 

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