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Ein Plädoyer für die Trauer

Eine Gemütsstimmung so wirksam wie die Liebe – sie erfasst den ganzen Menschen

Von Dirk Pörschmann

© Gettyimages / Happycity21Das Wort »trauern« bedeutet ursprünglich zerbrechen und zerbröckeln. Das Leben bekommt Risse, wenn man einen wichtigen Menschen verliert. Die Trauer kann sich wie eine Schicht über den Menschen legen.

Trauer ist Liebe. Sie ist die Verbindung zu einer für ewig abwesenden Person. Mit dem Verlust läuft sie ins Leere, denn Worte, Blicke und Berührungen bleiben unbeantwortet. Es gibt keine Resonanzen mehr. Trauer ist eine Gemütsstimmung, die Handlungen provoziert. Die Liebe wandelt sich darin, und Rituale helfen bei dieser schmerzhaften Transformation. Die Herzenswärme zu einem geliebten, anwesenden Menschen wird zur innigen Verbindung mit dem Abwesenden.

Jährlich trauern bis zu zehn Prozent unserer Gesellschaft

Die Herkunft des Wortes »trauern« führen Sprachwissenschaftler auf die indogermanische Zeichenfolge »*dhrü-« zurück. Das bezeichnet den Vorgang des Zerbrechens und Zerbröckelns. Ein Körper löst sich auf. Das ruft das Bild eines sterbenden Menschen wach. Zugleich lässt es an den Trauerschmerz der Hinterbliebenen denken, der zermürbt und das bisherige Leben auflöst.

Statistisch betrachtet stirbt alle 33 Sekunden ein Mensch in Deutschland. Das waren 2018 rund 955 000 Bürgerinnen und Bürger. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jeder Verstorbene im Durchschnitt sechs bis acht Menschen hinterlässt, die um ihn trauern. Das bedeutet: Jährlich trauern bis zu zehn Prozent unserer Gesellschaft um einen Verstorbenen.

Jeder Mensch erfährt Trauer in seinem Leben. Die Ursachen können vielfältig sein. Wo zeigt sich diese Trauer in der Öffentlichkeit? Nehmen sich Trauernde hierfür Raum und Zeit außerhalb ihres intimen Rückzugsorts oder maskieren sie ihren Verlustschmerz und ihre Verletzlichkeit in der Öffentlichkeit?

Kollektiv mittrauern

Sterben Prominente oder fallen Mitmenschen Attentaten zum Opfer, dann ist die allgemeine Betroffenheit groß. Es gibt gemeinsame Trauerbekundungen und spontan inszenierte Trauerorte. Die wenigsten hatten eine direkte Beziehung zu den Verstorbenen. Trotzdem trauern sie kollektiv mit. Das sind emotionale und psychische Übertragungsphänomene. Bei solchen Anlässen fällt es offensichtlich leichter, Trauer zu zeigen. Das gemeinsame Empfinden schützt vor der Haltlosigkeit. Es bietet einen Rahmen, in dem Betroffene ihren Trauerschmerz teilen können.

Unser Körper scheidet Tränen in unterschiedlichen Gefühlslagen aus. Freude, Wut, Überraschung, Angst oder Traurigkeit können Auslöser sein. Trauer ist jedoch eine langanhaltende Gefühlsstimmung, die unterschiedliche Facetten an Emotionen bereithält. Wenn man einen wichtigen Menschen verliert, erschüttert das die eigene Existenz. Aber auch der Verlust von Heimat, Wohnort, Arbeit und Gesundheit, der Abschied von Lebensträumen kann aus der Bahn werfen. Dann helfen Tränen, psychische und emotionale Prozesse in die physische Außenwelt zu transportieren und sie somit zu transformieren. Unser Körper weiß intuitiv, wie er in der Trauer dem schmerzhaften Verlust begegnen kann.

»Trauer ist die Lösung, nicht das Problem!« lautet die optimistische Losung der Trauerexpertin Chris Paul. Geben wir der Trauer und damit den Trauernden endlich wieder Raum in unserer Gesellschaft, damit wir die Verluste, die Leben immer mit sich bringt, heilsam überwinden können.

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© Anja Koehne

Zum Autor

Dirk Pörschmann ist Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel sowie Geschäftsführer der ­Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V.

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Ermutigung und Hilfe zum Trauern gibt es im Netz unter dem Online­ma­gazin für heil­sames Trauern Trauer-Now

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